BILDBETRACHTUNG 20
Aus der Serie «Faszination Eis» © Marcel Weinberger, Buttikon
Wie der Bug eines grossen Schiffes liegt er vor uns, der goldglänzende Riesendiamant aus Eis, getragen von weichen, in allen Blautönen spielenden Wellen. In der tiefsten Ferne ein zartes Rosa, welches sich im kühlen Himmelblau verliert. Die Sonne steht knapp über dem Horizont. Sie ist eben aufgegangen oder entschwindet demnächst hinter den letzten Hügelzügen. Ihre gleissenden Strahlen brechen sich im glasklaren Eisblock und verwandeln ihn in einen glitzernden Kristall. Eine unberührt reine, stille Welt aus Wasser. Das Eis wird schwimmend weitertreiben, später langsam schmelzen und sich so in den ständigen Kreislauf des Wassers einfügen. Es wird im Dunst aufsteigen, als Wolken ziehen, im Regen fallen, in die Meere strömen und dabei Allem selbstlos Leben spenden. Schon bald wird es für uns Menschen wertvoller sein als Gold, kostbarer als jeder Diamant. Kein Leben ohne Wasser. Gold und Edelsteine können wir nicht trinken.
BILDBETRACHTUNG 19
Aus der Serie «Einsamkeiten» © Barbara Wälchli, Steinerberg
Jung und alt, schwarz und weiss, schwach und stark. Wie beschreibe ich das Sichtbare politisch korrekt? Zwei Männer unterschiedlicher Hautfarbe und Lebensalter sitzen nebeneinander auf einer öffentlichen Bank. Hinter ihnen ein grüner Streifen Funktionsbepflanzung, ein paar Ampeln, ein paar Bäume. Der greise Mann in Sandaletten und neutralem Altersbeige stützt seine Hände auf einen Stock. Der junge Schwarze sitzt breitbeinig hinter seinen muskulösen Armen, vor sich ein Kinderbuggy. Ihre Blicke gehen in unterschiedliche Fernen. Zwischen ihnen füllt ein klarer Abstand die gewünschte Distanz. Sie haben sich spürbar nichts zu sagen, sichtlich nichts miteinander zu tun. Vielleicht würden sie sich auch nicht verstehen, wenn einer reden würde. Sprachen verbinden nur, wenn sie nicht trennen. Die wetterfeste Sitzbank bietet ihnen, was sie beide brauchen. Sollten sie trotz aller Unterschiede doch noch ein Gespräch versuchen, würden sie sich hier vermutlich wieder treffen.
BILDBETRACHTUNG 18
Aus der Serie «Makrofotografie» – Vernetzte Welten © Lukas Schumacher, Einsiedeln
In einer leichten Schräge tanzt ein prachtvolles Ballett glänzender Kugeln, in deren wechselnden Volumen sich der Raum verdichtet und gebogen spiegelt. Mit ihren gestochen scharfen Strukturen erinnern sie an Murmeln, wie wir sie einst zum Spielen brauchten. Sie müssen allerdings sehr leicht sein, denn sie alle sind verbunden und getragen von kaum sichtbaren Fäden. Ein feinstes Netz, vom Tau besetzt, der als perfekt geformte Kügelchen gefangen in den Halmen hängt. Jedes einzelne Tröpfchen ist hier eine Welt für sich. Ein Blick ins Kleinste, der einem Blick ins Grösste ähnlich ist. So könnten wir hier auch Sonnen sehen, Monde und Planeten, die im All verteilt von unsichtbaren Kräften der Natur gehalten werden. Die Nahaufnahme vermittelt uns den Blick in die Unendlichkeit und von dort zurück. Trotz unserer wachsenden Kenntnisse von den kleinsten und den grössten Dingen werden wir es sicher nie verlieren: das bewundernde Staunen über das Unerklärliche im Erklärten.
BILDBETRACHTUNG 17
Aus der Serie «Porträt Vieh- und Schafmarkt» © Werner Schelbert, Muotathal
Er sieht uns nicht, der alte Mann mit dem Stoppelbart, dem wirren Schnauz und den schlohweissen Haaren. Ein ungestelltes, ausdrucksvolles Portrait in Schwarz-Weiss. Ein von allen Wettern gegerbtes und vom Leben gestaltetes Gesicht. Der alte Mann blickt unter gekniffenen Brauen sorgfältig prüfend und aufmerksam nach vorne. Was er betrachtet, wissen wir nicht. Aber es ist deutlich spürbar, dass ihn sein Blick nicht täuschen wird. Er scheint genau zu wissen, worauf er achten muss, und er braucht dazu bestimmt kein Formular. Er ist damit nicht immer, aber meistens gut gefahren. Seine Erfahrung stützt sich auf sein ganzes Leben, in welchem er, auf sich gestellt, immer wieder wichtige Entscheide treffen musste. Er kennt die Konsequenzen einer falschen Einschätzung, und auch die der richtigen Beurteilung. Dieser Mann braucht keinen Rat, er trägt ihn bei sich. Er wird sich bald entscheiden. Dank diesem Bild darf ich ihm beim Abwägen des Dafür und Dawider zuschauen, ohne ihn dabei zu stören.
BILDBETRACHTUNG 16
Aus der Serie «Roter Raum» ©Katrin Odermatt, Merlischachen
Ein kräftig gewobenes Band am unteren Bildrand ist die einzige, deutlich sichtbare Begrenzung und wirkt als tragendes Fundament. Darüber dehnt sich in unzähligen, ineinander fliessenden Farbtönen unscharf eine rote Unendlichkeit. Im Kontinuum der nahtlosen Übergänge findet sich kein Horizont, das Auge sucht vergeblich einen festen Punkt. Der Blick versinkt in der glühenden Tiefe. Wer diesen roten Raum betritt, wird sich darin verlieren. Rot ist die Farbe der Liebe, die Farbe der Scham, des Zorns und der Wut. Wer rotsieht ist gefährdet, wer errötet, fühlt Liebe oder Scham. In Zornesröte geraten wir ausser uns. Ein roter Kopf ist kein kühler Kopf. Rot sind die warmen und heissen Gefühle, die uns erhitzen, verändern und verzehren. An Rot kommen wir nicht vorbei. Rot fällt uns immer auf. Unser menschliches Auge ist übrigens genau dafür ganz besonders ausgerüstet. Mein Blick verlässt den glutrot heissen Raum, bevor er sich darin erschöpft, versengt und ganz verliert.
BILDBETRACHTUNG 15
Aus der Serie «Instagram vs. Reality» © Evelyne Marty, Einsiedeln
Links ein prächtiges Postkartenbild, aufgenommen am Ufer des gefrorenen, schneebedeckten Sees. Der Blick reicht weit hinauf zu der im Abendlicht strahlenden Bergkette, welche majestätisch aufsteigt über die schwarzblauen Wälder der davor verschränkten Hügel. Die Schneedecke auf dem See wird von einem letzten zarten Lila bestrichen, im Vordergrund begleiten Stauden und aufgetaute Streifen in dunklen Linien und schwungvollen Bögen den Rand des Ufers. Ein schönes Bild. Rechts davon dieselbe Aussicht in dieselben, jetzt näher gerückten Berge. Hier ragt bis zur Bildmitte eine dichte Masse braunschwarz verdreckter Schneeblöcke empor und imitiert wie ein vorgelegtes Echo mit ihrer aufgeworfenen Silhouette die gebrochene Linie der erhabenen Berge. Eine ebenso gelungene, jetzt aber zweideutige Aufnahme. Was dort im Abendlicht als Schneepracht strahlt, wird vor uns aufgetürmt zum lästigen Schmutzfang. Rasch weg damit. Dreckschnee auf den Strassen stört uns bei der Fahrt in die Erholungszonen.
BILDBETRACHTUNG 14
Aus der Serie «Elemente im Wandel» © Brigitte Marty, Steinen
Ein buntes Durcheinander von starken Farben, die sich, von dunkeln Rosthöfen durchbrochen in satten Schichten überlagern. Das Objekt aus Eisen scheint verbraucht und hat vermutlich ausgedient. Unter seinem abgesplitterten letzten Gelb erscheinen wirre Formen und Figuren in leuchtendem Orange, in Rot und Weiss, in Türkis und Purpur. Der Rost hat sich tief eingefressen und stellenweise wie ein Pilzgeflecht den Lack durchdrungen. Scharfe Kanten, Risse und gequetschte Stellen verweisen auf die harten Kräfte, die hier wirkten. Das Bild zeigt uns einen ungeschönten Rückblick. Die aufgebrochenen Schichten eröffnen die Vergangenheit, die in zerfallenden Farben noch einmal zum Vorschein kommt. Die letzte, die gegenwärtige Oberfläche ist fleckig durchsetzt von dem, was zuvor war. Je genauer ich das Bild betrachte, umso mehr wird es zur Abstraktion. Das unbekannte Objekt löst sich auf und verwandelt sich in alle bunten Erscheinungen, die hinter ihm liegen. Ungeschönt schön.
BILDBETRACHTUNG 13
Aus der Serie «Nebelsicht» © Nadia Knechtle, Bäch
Eine reglose Symphonie in kalten Tönen. Das dunkle Blau im Vordergrund verliert sich stufenlos im blasshellen Blauweiss der spiegelglatten Wassersfläche. Am schnurgeraden Horizont steigt ein fahles Himmelblau ins Helle. Getragen von vier runden Säulen ragt ein Sprungturm aus Beton und Rundgestänge aus dem Wasser. Der See hat die Stützen angeleckt und mit schorfigem Kalk belegt. Ihr Abbild verliert sich im unbewegten Wasserspiegel. Zwei leere Sprungbretthalter. Das Bild weckt die Erinnerung an heisse Sommertage, an ausgelassen lärmendes Treiben und an bunte Badetücher. Ich höre das holpernde Klappen der Sprungbretter, dem ein klatschendes Platschen folgt. Da waren Sommertage voller Lebenslust. Sie werden hoffentlich auch wieder kommen. Der Sprungturm ruht im reglos gegenwärtigen Dazwischen. Sein Zweck ist zurzeit wirklich nicht gefragt. Erst wenn die Tage wieder warm und lang sind, kann der Sprungturm werden, was er sein soll. Erwartet die Gegenwart die Zukunft?
BILDBETRACHTUNG 12
Aus der Serie «Schön vergänglich» © Andrea Knechtle, Bäch
Ein Motiv in zwei Bildern. Links ein vertrocknetes Büschel Vogelbeeren an einem Zweig mit gezähnten, dürren Blättern. Sie haben sich zu Dunkelbraun und Kupferrot verfärbt und dabei leicht eingerollt. Die einst leuchtend roten Beeren sind faltig verschrumpelt und zeigen fleckige Reste von tiefem Karminrot. Rechts ein verdorrtes Bündel Efeu, an dem noch dunkelbraune Blätter haften. Seine wirren Ranken kehren in einem schwungvollen Bogen zum Büschel zurück. Im Hintergrund ein Schattenwurf vor schwachem Licht. Die Zeit des Wachstums und der Reife ist vorbei. Die einst satten Farben der Blüten und Blätter, die pralle Fülle der Früchte sind dunklen Farben und faltigen Formen gewichen. Ein einziger fester Zugriff liesse diese brüchigen Stauden zerbröckeln. Erst jetzt erscheint diese geheimnisvoll vielfältige, vom Erlebten geformte Schönheit, welche dem Gedeihen entwachsen ist. Sie ist verletzlich ohne zart zu sein. Der Weg liegt zurück, das Ziel ist erreicht. Wie lange dauert eine Schönheit?
BILDBETRACHTUNG 11
Aus der Serie «Black and White Scale» © Pascal Kaelin, Zürich-Einsiedeln
Während wir beim linken Bild nicht gleich sicher sind, erkennen wir beim Bild rechts sofort, dass es sich um eine Spezialaufnahme handeln muss. Die verschiedenen, in einer aufsteigenden Wendel überlagerten Grautöne beweisen uns den unüblichen Durchblick, der uns als «Röntgenbild» bekannt ist. Dieser Strahlung gelingt es, Körper verschiedenster Materialien zu durchdringen und als «Durchleuchtung» Strukturen abzubilden, die dem blossen Auge unzugänglich sind. Wir erkennen dabei den tragenden Aufbau, das Gerüst der äusseren Form. Hier wird ein Geheimnis gelüftet. Links die Schönheit der Ordnung in den ineinandergreifenden, präzisen sogenannten «Goldenen Spiralen». Sie folgen strikt einem Wachstumsgesetz, welches auch Mathematiker fasziniert. Die Schraubenformen rechts scheinen nicht streng gesetzmässig. Trotzdem entsprechen sie einem geregelten Aufbau. Ich schaue hinein in die enthüllte Hülle, in das sichtbar gemachte Unsichtbare und bin einen Schritt näher am Verstehen. Das Wunder bleibt.
BILDBETRACHTUNG 10
Aus der Serie «Tunnelblick» © Nina Kälin, Oberiberg
Der Blick in einen Tunnel ist ein Blick in eine Röhre. Unscharf nah vor uns die Lauffläche des Schienenprofils, das sich, von unzähligen Spannklemmen auf die Schwellensockel fixiert, in einem eleganten Bogen in der Tiefe verliert. Es sind zwei Geleise, die präzis parallel durch den demnächst fertiggestellten Tunnel führen. Von Scheinwerfern getaktet folgt ein kaltweisses Lichtband dem Beton bis in die ferne Biegung, wo unsere Sicht endet. Ein Tunnel besteht aus Wiederholungen. Ein neuer Baustellenwagen steht nebenan. Er imitiert mit seinem rot-weissen Musterbogen den Querschnitt eines Personenwagens. Die Stromleitung ist noch nicht montiert. Weit und breit kein Mensch, keine Bewegung, doch alles wirkt in Bereitschaft. Auch dieser Tunnel beseitigt ein Hindernis. Schon bald werden wir auf weichen Polstern sitzend, lesend, dösend oder schlafend durch den Berg rasen und etwas Reisezeit gewinnen. Was wir damit machen, müssen wir nicht jetzt schon wissen. Hauptsache, wir sind dann schneller dort.
BILDBETRACHTUNG 09
Aus der Serie «Auftauchen» © Martina Kalchofner, Vitznau, Pigmentdruck auf Fine Art Papier, 2019, ca. 112 cm x 152 cm, 1/3
Ein Bild in lichtem Blau, welches nach oben hin allmählich in ein tiefes Nachtblau übergeht. Davor oder wohl eher darin schwebt wie ein seidener Schleier ein nicht greifbar zartes Etwas. Eine weiche, wellig gefaltete Form aus nebeldünnem Licht, das sich im Saum der geheimnisvollen Erscheinung zu einem strahlenden Rand zusammenfindet. Das schemenhafte Objekt könnte unendlich gross sein oder aber winzig klein. Es scheint sich wellenartig zu verändern, zeigt sich nur in diesem Augenblick gerade so: eine hauchzarte Haube, die sich im nächsten Augenblick in einer neuen Form verliert. Durchsichtig sichtbar, vorhanden und nicht wirklich, gleichzeitig lebendig und vergänglich, im Moment geformt und wieder verloren. Würde ich es ergreifen, hätte ich nichts in den Händen. Möchte ich es einfangen, löst es sich auf. Ein Phänomen taucht auf, wird sichtbar und verschwindet. Was wir hier sehen, ist unserm Blick bereits voraus. Wir sehen immer nur, was soeben war.
BILDBETRACHTUNG 08
«Schwyzer Unterwasserwelten» – Ast mit Eglileich © Markus Inglin, Steinen
Ein lichtschimmerndes Türkis , vor dessen Unendlichkeit sich leicht abfallend ein locker bewachsener Seeboden wölbt. Ein toter Ast, von grünlichen Algen bewachsen und von dunkeln Muscheln besetzt, ragt wie ein zerfallendes Skelett aus dem weichen Grün der Wasserpflanzen. Ihre Fiederblätter schweben wie Wollfäden im Wasser. Die drei Fische sind mit ihrer stacheligen Rückenflosse und den breiten Schuppenstreifen als Egli zu erkennen. Die weissliche «Plastikfolie», die sich im starren Astgewirrr verfangen zu haben scheint, ist zum Glück kein Abfall. Die Egli haben hier kürzlich ihren Leich abgesetzt, der nun wie ein weisser Schleier am Holz vertäut im Wasser schwebt. Wir blicken in der grünblauen Tiefe des Sees in eine uns unbekannte Wasserwelt, in einen Kosmos ausserhalb unserer gewohnten Umgebung. Wir können diesen Lebensraum nicht betreten. Wir können nur mit sehr viel Aufwand in ihn eindringen. Wem gehören diese Egli, wem ihre Nachkommen, wenn sie aus dem Leich schlüpfen? Wem gehört diese Welt?
BILDBETRACHTUNG 07
Aus der Serie «Wildiheuen – kulturhistorisches Erbe» © Ernst Immoos, Morschach
Es ist Hochsommer, die Sonne brennt aus wolkenlosem Himmelblau. Eine mit der Sense gemähte, stotzige Steilwiese. Einzelne grüne Streifen sind der Klinge entgangen und stehengeblieben. Dazwischen liegt das trockene Heu, welches mit Rechen zu einer langen Halmwalze zusammengezogen wird. Der Bauer hat die schützende Kapuze hochgeschlagen, er biegt sich schräg unter den schweren Ballen, sichert den Tritt, greift mit den Händen fest in das Netz und stemmt das «Burdi» über seinen Rücken vom Boden weg. Er trägt es nach unten, wo es am Heuseil gleitend ins Tal rasen wird. Hier oben kann keine Maschine helfen. Wildiheuen braucht Männer und Frauen, die wissen, was zu tun ist und diese Arbeit leisten, auch wenn der mühevolle Aufwand den Ertrag weit übersteigt. Und doch sind alle mit Kraft und Freude am Werk. Ich möchte ins Bild treten, mithelfen, teilnehmen an dieser steilen Freiheit. Ein zeitloses «Gruppenbild mit gefährlicher Arbeit», welches zeigt: Hier lohnt sich, was nicht mehr rentiert.
BILDBETRACHTUNG 06
Aus der Serie «Bildkommunikation» © Lukas Imhof, Küssnacht
Das Bild zeigt zunächst zwei Ebenen. Im Hintergrund eine unscharfe, von den Jahren und dem Sonnenlicht dunkel gebeizte Holzwand, die wohl zu einem alten Haus oder einem Stall gehört. Die warmen Brauntöne und das dunstige Graublau treten in den Vordergrund und wiederholen sich im warmen Wollstoffmantel und im kräftigen, gewellten Haar der jungen Frau. Die gelbe Strickmütze wärmt und schützt sie vor der Kälte. Der Blick ihrer blauen Augen geht seitwärts. Was sie dort sieht, lässt sie lächeln. Da ist keine Pose, kein gelernter Ausdruck, wie sie uns auf Modebildern aufgedrängt werden. Wir sehen nicht, was die junge Frau betrachtet. Aber es ist zu spüren, dass sie sich dabei wohl fühlt. Ihr offener Blick gestattet uns, nicht nur ihr Abbild zu sehen, sondern dabei ihr Befinden zu erspüren. Beim Betrachten dieses stimmungsvollen Portraits gerate ich ausserhalb der einfachen Ansicht in die unendlichen Ebenen der Wahrnehmung.
BILDBETRACHTUNG 05
Aus der Serie «Besucher» © René Habermacher, Immensee
Eine Fläche in kräftigem Petrolgrün, welche unterschiedlich intensive Lichtflächen reflektiert. Sich überlagernde Kreise bilden nebeneinander aufgereihte, plastisch wirkende Lichtschläuche, die sich im Verlauf auflösen. Schräg aufsteigend eine Reihe runder Lichtkreise, unterbrochen von zwei strahlend hellen Reflexen. Das Muster zeigt sich oben links noch einmal deutlich kleiner. Eine Anordnung oder Komposition von Farbe, Kontrasten, Linien und Formen ohne absichtliche Abbildung von Gegenständen wird als abstraktes Bild bezeichnet. Ist das ein abstraktes Bild? Hier wurde weder komponiert noch angeordnet. Einfallendes Licht folgt zwingend den physikalischen Gesetzen. Es zeigt im Licht- und Schattenwurf höchst präzis, was ihm auf seinem Weg zu uns begegnet. Was auf den ersten Blick abstrakt anmutet, ist in Wirklichkeit das genaueste Abbild dessen, was dieses Licht in diesem Augenblick in diesem Raum uns zeigen kann. So einmalig wie wirklich.
BILDBETRACHTUNG 04
Aus der Serie «Nachbarschaftsstudie» © Andrea Gwerder, Steinen
Ein beinahe symmetrisches Bild eines alten Gewölbes. Knapp unter der Mitte eine gefasste, kreisrunde Öffnung, an deren Kante sich blendend ein Sonnenstrahl bricht. Der fahl-beige Verputz ist rissig und stellenweise ausgebrochen, in den Ecken hat sich grünliches Geflecht eingenistet. Ein Streifen des alten Putzes ist bogenförmig ausgebrochen und legt sich wie ein schützender Arm in das Deckengewölbe. Darunter werden Holzbohlen und aufgelegtes Schilf sichtbar, die dem frischen Mörtel einst als Unterlage Halt und Haftung gaben. Was jetzt noch ausbricht, wird dem Muster der sichtbaren Risse folgen. Die kurze Spur einer alten Backsteinmauer lässt vermuten, dass der Raum einst bis zur halben Höhe unterteilt war. Ein Gemäuer, das schon vieles erlebt hat. Jetzt, wo er leer steht, hat der Raum seine Aufgabe verloren. Das Gewölbe schützt mich, aber das einfallende Licht zieht mich nach draussen. Ich spüre den Wunsch, die Tür in meinem Rücken aufzumachen und hinaus ans helle Licht zu treten. Ich werde die Türe offen lassen.
BILDBETRACHTUNG 03
Aus der Serie «Signatur–Camera obscura» – Balmergrätli © Elisabetha Günthardt, Uznach-Muotathal
Im Vordergrund eine schräg abfallende Senke, bedeckt von kantigen Steinblöcken, Geröll und Schutt. Nach links öffnet sich eine weite Sicht hinab ins Tal, hinüber zu den Gipfelketten, die sich im sonnigen Dunst verlieren. Rechts ragt ein schmaler Steinkamm in den Himmel, weit dahinter liegt quer ein ferner Berg. Vor uns türmt sich ein grober Felsklotz, von waagrechten Lagen aufgeschichtet. Wind und Wetter haben seine Kanten gebrochen und ihn rund geschliffen. Ein eckiger Ausbruch macht den Klotz zum groben Kopf, der mit offenem Mund gegen die Sonne blickt. Ein Bild aus dem felsigen Zuoberst, hoch über der Baumgrenze und über den Alpweiden. Auf dieser Höhe ist der Weg nicht ungefährlich. Das Gestein ist lose und liegt in allen Schrägen. Ein Fehltritt kann jetzt böse Folgen haben. Hier geht man nicht gedankenlos, man tritt, man balanciert, man übersteigt. Hier oben wird uns jeder Schritt bewusster. Wir wissen, dass dieser Kopf aus Stein sich nicht helfend nach uns umdrehen wird. Hier sind wir ganz bei uns.
BILDBETRACHTUNG 02
Aus der Serie «Die Raben des heiligen Meinrad – Im Finstern Wald» © Claudette Ebnoether, Euthal
Wo zwei Bilder sich zeigen, drängt es sich auf, sie zu vergleichen. Was verbindet, was unterscheidet sie, weshalb bietet eines allein nicht den ganzen Eindruck? Beide Schwarzweiss-Aufnahmen zeigen ein Stück Wald. Eine unsichtbare Waagrechte trennt die Bildhälften. Links der schattige Waldboden, auf den nur ein paar verlorene Strahlenbündel fallen. Im Hintergrund ein lichter Himmel, unterbrochen von Stämmen, nackten Zweigen und dem Nadelkleid der Fichten. Ein Wald kurz vor dem Frühling oder schon im späten Herbst. Im rechten Bild ein grobes Gewirr von Laub und dürren Ästen, in denen sich der Tritt verfängt. Ein Hauch von Schnee liegt auf dem Durcheinander, aus dem die dunkeln Tannen ragen. Zwischen den Stämmen zeigt sich eine schwache Sonne, die nicht wärmt. In welchem Bild-Wald möchte ich verweilen? Ich blicke hinauf zum Rand der Kuppe Ich will das kurze Stück noch steigen. Vielleicht werde ich auch dort oben keinen Pfad finden. Aber ich werde mich für eine Richtung entscheiden und weiterstapfen, bis zur nächsten Kuppe.
BILDBETRACHTUNG 01
Aus der Serie «Retrospektive» © Claudio Casanova, Einsiedeln
Ein gleichschenkliges Dreieck vor Schwarz. Seine grauen Kanten verraten eine gläserne Pyramide. Von links trifft ein grellweisses, von lila Randschatten begleitetes Lichtbündel auf die Schräge. Die rechte Kante entlässt einen breiten Fächer leuchtender Regenbogenfarben. Ein gläsernes Prisma, welches das weisse Licht auffächert, seine Bestandteile nach Wellenlängen sortiert und als Farbenspektrum weiterleitet. Mitten unter der Pyramidenspitze der Schattenriss eines Freestylers, dessen riskanter Sprung in seiner Kulmination im Prisma eingefroren scheint. Eine irritierende Kombination von Physik, Verwandlung, Farbenspiel und mutiger Artistik. Das Bild nimmt mich mit hinein in jenen dichten Augenblick, in welchem der Akrobat spürt, dass sein Sprung gelungen ist. Dass alle Bedingungen in diesem einen Punkt optimal zusammengefunden und ihn für einen glücklichen Augenblick dem Gesetz der Schwerkraft enthoben haben. Ein höchst präzises Zusammenspiel für ein Gefühl in Regenbogenfarben.
BILDBETRACHTUNG VI
Aus der Serie «Linien» © Marann Schneider-Schnyder, Egg-Einsiedeln
Altes Holz, rostiger Draht, fleckiges Mauerwerk. Das ganze Bild wird von einem Muster überzogen, wie es alte Bilder zeigen, deren Firnis rissig wurde. Und trotzdem ist noch alles sichtbar, was einst sich ordentlich zusammenfügte. Die Ordnung hat sich in der Zeit verloren, das rostige Geflecht ist locker geworden, sein Muster wurde wirr verzogen. Der Blick fällt in einen weitgehend offenen, aber trotzdem abgedunkelten Raum, begrenzt von Mauern, Rundbalken, Gitter und Latten. Zwischen den ungleichen Brettern zeigt sich im Hintergrund das saftige Grün der freien Natur. Ein Zweckraum, dessen einziger und schönster Schmuck sein Zweck war. Vermutlich diente er als Stall, als sicherer Verschlag, als schützende Unterkunft für Vieh. Hier lebten wohl Ziegen oder Schafe, ein Esel, vielleicht auch ein paar Hühner. Sie sind nicht mehr da, und sie werden sicher nicht mehr kommen. Der Stall hat ausgedient. Er erzählt mir noch von sich und seinen Zeiten und wartet geduldig auf sein Ende.
BILDBETRACHTUNG V
Aus der Serie «Stadtlandschaften» © Mirjam Landolt, Küssnacht
Ein Grüngewirr in allen Tönen: Blätter, Wedel, Stiele, Stämme. Aber dieser Urwald ist keiner. Zwischen den saftigen Pflanzen finden sich beschriftete Steckschilder. Mitten im Bild ragt ein imposant gebogenes Lüftungsrohr aus einem Schachtsockel. Daneben drei dünnere Röhren. Einzelne Pflanzen sind an stützende Stöcke gebunden, einer davon gibt sich unauffällig grün. Angst vor Schlangen ist nicht nötig. Wir stehen in einer Installation mit pädagogischem Auftrag, in einem von Menschenhand inszenierten Urwald, der hier nicht wachsen würde und auch nicht wachsen könnte, wenn wir ihm nicht mit allem Nötigen unter die Äste greifen würden. Nur dank eines perfekten Systems von Sensoren, Regulatoren, Lüftungs-und Leitungsrohren, dank optimierter Belichtung und idealer Temperatur gedeiht hier ein transplantiertes Konstrukt. Es will uns jene freie Natur näher bringen, welche hier spontan nicht (mehr) vorkommen kann. Das Ausmass des dazu nötigen technischen Aufwands ist proportional zur Distanz, welche uns vom Urwald trennt.
BILDBETRACHTUNG IV
© fotosz.ch
Den Hintergrund bestimmt die Waagrechte: eine Stufe, eine Rille, eine Kerbe, ein weicher Rand. Ein grosses Denkmal, an dessen steinernen Sockelwänden aus schmalen Rinnen spiegelnde Wasserflächen sprudeln. Die Sonne scheint, es wird trocken bleiben. Der Platz vor dem plätschernden Monument gehört ihr nicht. Aber jetzt, wo die nicht mehr junge Frau mit ihrer Gitarre hier auf ihrem Hocker sitzt, ist dieser Ort ihr Platz. Vielleicht sitzt sie immer da, wenn die Sonne scheint. Ihre blauschwarze, mit Papierblumen und der Che-Ikone verzierte Gitarre ist unterdessen so alt, wie die Lieder, die sie singt. Sie spielt sie alle auswendig. Das Notenbuch am Boden hilft ihr, keinen Titel zu vergessen. Neben den Tamburinen zu ihren Füssen liegt eingerollt ihr kleiner Hund. Das ist eindeutig sein Platz. Der Yorkshire-Terrier heisst vielleicht «Che». Er kennt die Melodien, die sein gut gelauntes Frauchen hier zum Besten gibt. Auf dem Rollkoffer steht der schwarze Hut für die Münzen. Die Songs aus den farbenfrohen Flowerpower-Zeiten wecken bunte Erinnerungen. Das Einst im Jetzt ist Vielen etwas Kleingeld wert.
BILDBETRACHTUNG III
© fotosz.ch
Zuerst erscheint, was selber durchsichtig ist. Eine glatte Wasserfläche überdeckt Steine, spärliche Gräser und kleine Blattpflanzen. Der nasse Grund senkt sich seitwärts in die Tiefe und verschwindet im gespiegelten Himmelblau, aus dem eine dürre Staude ragt. Wir stehen am Uferrand eines stillen Teichs, der etwas über seinen Rand aufgestiegen scheint. Über dem Wasser schwebt ein Stück borkiger, trockener Rinde. Eine genau geführte, darüber gelegte Schnurschlaufe hält es quer auf dem grösseren, darunter liegenden Rindenstück. Ein untergegangenes Schiffchen, dessen Segel noch über Wasser steht. Jemand hat es sich ersonnen, zusammengefügt und schliesslich hoffnungsvoll auf das Wasser gelegt. Er hat es losgelassen, dem Wind anvertraut und hat ihm seine Träume mitgegeben. Die Rinde wurde nass, der offene Rumpf leckte, füllte sich mit Wasser und das Schiffchen sank auf Grund. Es wird aus dieser Lage nicht mehr fortsegeln können. Es wird bald auseinanderfallen. Aber bis dann bleibt es ein sichtbar gewordener Traum.
BILDBETRACHTUNG II
© fotosz.ch
Das Missgeschick liegt knapp zurück. Soeben ist die Fahrradkette aus dem Zahnkranz gesprungen. Ein Fehler beim Schalten, ein Misstritt zur falschen Zeit? Zum Glück ist dabei nichts Böses passiert. Weiterfahren ist unmöglich, jetzt ist Reparatur angesagt. Zuständig dafür ist der Besitzer des Fahrrads, der sich gleich an die Arbeit macht. Sein Freund kann zwar nur ratend helfen, steht ihm aber kauernd bei. Wie muss die Kette zwischen Wechsel und Zahnkränzen eingelegt werden? Das Problem verlangt konzentriertes Verstehen. So etwa? Oder doch so? Nein, das geht nicht. Moment..., ich glaube, so geht das! Die Beiden werden demnächst die Kette einlegen, über das Tretrad einziehen, und das Velo wieder auf seine Räder stellen. Sie werden abwechselnd ihre Runden drehen, sie werden neue Kurven zirkeln und mutig über den Randstein springen. Das Vergnügen wird weitergehen. Bis die Kette wieder einmal aus den Zähnen springt. Dann wissen sie bereits, dass gelegentlich auf den Kopf gestellt werden muss, was wieder auf die Beine kommen soll. Erfahrung kommt von Fahren, aber auch von dessen Unterbrüchen.
BILDBETRACHTUNG I
© Heidi Bubenhofer, Scuol
Von dicken Wurzeln abgestützt steht die riesige Arve im Spiel von Sonnenlicht und Schatten. Der breite Stamm verrät, dass der Baum schon uralt sein muss. Die kräftige Rinde und das frische Grün der Nadelbüschel bezeugen, dass der stumme Riese immer noch gesund und kräftig ist. Neben dem Stamm liegt ein baumstarker, dürrer Ast, der einst unter Ausriss einer grossen Wunde ausgebrochen ist. Er hat die Rinde längst verloren, sein ausgedorrtes Holz liegt frei, vom Licht gebleicht, vom Regen ausgewaschen. Nur ein Streifen eines warmen Braunorange erinnert an das ferne Leben. Da steht eine Frau, leicht vorgebeugt, mit beiden Armen abgestützt, den Kopf geneigt, den Blick zu Boden. Sie lehnt, die Fersen etwas angehoben, bewegungslos und konzentriert am dürren Ast. Ihr ganzer Körper ist bedeckt vom gleichen Graugrünbeige, vom Totholz kaum zu unterscheiden. Ein Ritual? Eine Kunst-Aktion? Für mich ein Bild der unerfüllten Sehnsucht, einmal ganz Natur zu werden, in ihr aufgehoben, mit ihr eins geworden da zu sein und da zu bleiben. Würdig wie ein alter Baum.